Editorial im Controller Magazin
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
noch immer werden Konzepte für quantitative Risikoanalyse und Risikoaggregation als Themen alleine für das Risikomanagement verstanden. Das ist jedoch ein Missverständnis. Überall im Unternehmen sollte man sich mit Chancen und Gefahren, also Risiken, befassen. Konzepte und Methoden des Risikomanagements sind besonders wichtig im Controlling und im ganzen Feld der Corporate Finance, was ich hier nachfolgend knapp skizzieren möchte.
Welche Verknüpfungspunkte zwischen Risiko und Finanzierung (Corporate Finance) bestehen? Hier sind die wichtigsten zusammengefasst:
1. Der Risikoumfang eines Unternehmens bestimmt die angemessene Finanzierungsstruktur
Die Finanzierungsstruktur eines Unternehmens ist nämlich immer abhängig von (1) Gesamtrisikoumfang und (2) Sicherheitsziel, also ihrem Anspruch an die Überlebens- und damit Zukunftsfähigkeit des Unternehmens (z. B. ausgedrückt durch ein Ziel-Rating). Die Logik ist einfach: Eigenkapital ist notwendig, um risikobedingt mögliche Verluste aufzufangen, um trotz solcher Verluste Mindestanforderungen der Banken an das Rating zu gewährleisten. Mehr Risiko erfordert also mehr Eigenkapital.
2. Die Finanzierungsstruktur bestimmt den „Grad der Bestandsgefährdung“ (gemäß § 1 StaRUG)
Eine höhere Verschuldung führt dabei ebenso wie höhere (vertraglich vereinbarte) Kreditzinsen zu einer ceteris paribus höheren Insolvenz- und Gefährdungswahrscheinlichkeit. Die Finanzierung des Unternehmens (und dessen Änderung, siehe auch 3.) sind also bei der Beurteilung des Grads der Bestandsgefährdung, speziell bei der Bestimmung der Gefährdungswahrscheinlichkeit, der Wahrscheinlichkeit einer schweren Krise, zu berücksichtigen. Wesentlich ist hier auch die Berücksichtigung sogenannter „Refinanzierungsrisiken“, die bei jeder Risikoanalyse gemäß § 1 StaRUG zu beachten sind. Solche Refinanzierungsrisiken entstehen nämlich, weil man am Ende der Laufzeit eines Kredits (oder bei Zurückzahlung einer Anleihe) unsicher ist, ob und zu welchen Konditionen eine Anschlussfinanzierung möglich ist.
3. Die Entscheidung über eine Finanzierung ist eine „unternehmerische Entscheidung“ im Sinne Business Judgement Rule (§ 93 AktG / § 43 GmbHG)
Zu den unternehmerischen Entscheidungen gehören alle Finanzierungsentscheidungen, die unter Mitwirkung der Geschäftsleitung getroffen werden, insbesondere solche mit Covenants (Kreditvereinbarungen). Entsprechend sind eine Risikoanalyse und eine Risikoaggregation durchzuführen, um aufzuzeigen, wie sich der Risikoumfang des Unternehmens infolge einer Entscheidung verändern würde. Nur so ist es möglich Ertrag und Risiko von Handlungsoptionen, speziell über die Finanzierung, gegeneinander abzuwägen („risikogerechte Bewertung“). Man muss insbesondere wissen, wie wahrscheinlich es ist, dass Covenants verletzt werden, die zur Kreditkündigung führen könnten.
4. Risikoanalyse und Rating ermöglichen eine sachgerechte Beurteilung der Finanzierungskonditionen und Fremdkapitalkosten
Der Risikoumfang bestimmt die Höhe von Zins und Fremdkapitalkosten. Es ist zu beachten, dass die Fremdkapitalzinssätze, speziell die vertraglich vereinbarten Zinssätze, keine Erwartungswerte und daher nicht die Fremdkapitalkosten darstellen. Ergänzend ist anzumerken, dass durch Änderung einer Finanzierungsstruktur ausgelöste kleine Veränderungen der Insolvenzwahrscheinlichkeit (p), als Maß des Insolvenzrisikos, bereits ganz erhebliche Auswirkungen auf den Unternehmenswert als Erfolgsmaßstab haben. Daher ist gerade bei der Entscheidung über die Finanzierungsstruktur (siehe 1.) eine Beurteilung der Konsequenz für den Unternehmenswert empfehlenswert.
Fazit: Im Ergebnis sieht man, dass die Welt der Finanzierung und die Welt der Risiken, also das Themenfeld des Risikomanagements, nicht trennbar sind. Eine professionelle Finanzierungspolitik des Unternehmens und die Finanzierungsentscheidungen setzen eine sachgerechte Analyse und Aggregation der Unternehmensrisiken voraus, wie sie seit 2021 § 1 StaRUG von allen Kapitalgesellschaften fordert.
Und man sieht auch hier: Die Kompetenzen und Methoden, die im Risikomanagement aufgebaut sein sollten, sind von grundlegender Bedeutung für die gesamte Unternehmenssteuerung. Das gilt inzwischen natürlich außer im Feld Corporate Finance z. B. auch bei IT und Cyber Security, wie im Artikel „Quantifizierung von Cyberrisiken mit dem FAIR-Modell“ von Prof. Wieczorek und Herrn Hoffmann erklärt wird.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen
Prof. Dr. Werner Gleißner