Zeit der Vorsorge

Editorial der RMA-News im Controller Magazin

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn Unternehmen Vorsorge für bestandsgefährdende Risiken treffen, wie erklärt sich dann die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten, die, z.B. durch Single Source, seit mind. 30 Jahren verstärkt wurde? Der Fokus wurde ausschließlich auf den Preis gesetzt und nicht auf die Verfügbarkeit. Der Preis, den es nun für die Verfügbarkeit zu zahlen gilt, kann für einige Unternehmen bestandsgefährdend werden.

Die Wahrscheinlichkeit für einen mehrtägigen Blackout wurde in der Schweiz bis vor Kurzem mit ca. 3%, also einmal innerhalb von 30 Jahren eingeschätzt. In der „NZZ am Sonntag“ vom 18. September 2022 beschreibt der Artikel „Guet Nacht, Züri!“  die möglichen Auswirkungen eines totalen Blackouts als fiktives Szenario für die Stadt Zürich anhand der Risikoanalyse „Katastrophen und Notlagen Schweiz“. Das Szenario versetzt die Stadt ins Mittelalter zurück! Die Vorsorge mit 41 beheizten städtischen Notfalltreffpunkten ist beruhigend und hoffentlich trifft diese gute Vorsorge auch für deutsche Großstädte im gleichen Maße zu!

Für Risiken im blinden Fleck gibt es keine Vorsorge.

Lassen Sie mich den blinden Fleck anhand der nachfolgenden Darstellung basierend auf dem 1955 in der Psychologie entwickelten Johari-Fenster erklären:

Es sollte von allen am Risikomanagementprozess Beteiligten angestrebt werden, den blinden Fleck so klein wie möglich zu halten. Dies geschieht dadurch, dass die bekannten Risiken transparent sind,eine Vorsorge stattfindet und in regelmäßigen Abständen Workshops zu den Extremrisiken, z.B. mit einem Zeithorizont größer 100 Jahre, stattfinden. Achten Sie einmal auf die Skala bei den Eintrittswahrscheinlichkeiten in den sogenannten Heatmaps bei den Veröffentlichungen in den Risikoberichten der Geschäftsberichte börsennotierter Unternehmen. Mir fällt hier immer wieder auf, dass nur Risiken abgebildet sind, die in einem Zeithorizont vom 50 Jahren oder kleiner ein Mal auftreten können. Dies stellt leider ein Vergrößern des blinden Flecks dar, falls es nicht mit entsprechenden Risikoworkshops abgesichert wird.

Eine kritische Vorstufe zum blinden Fleck ergibt sich, wenn ein intern unbekanntes Risiko leicht erkannt werden kann und dennoch keinerlei Vorsorge stattgefunden hat.

Risiken, die als unmöglich eingeschätzt werden, z.B. der Hurricane Katrina mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von ca. einmal in 400 Jahren, die Pandemie und der Krieg in der Ukraine, fallen somit direkt unter den blinden Fleck und es wird ebenfalls keine oder wenig Vorsorge betrieben.

Wenn es niemanden gibt, der sich mit diesen Risiken beschäftigt oder vom Management gehört und ernst genommen wird, dann ist man beim Eintritt gänzlich unvorbereitet, also überrascht.

Hätte die kritische Gasabhängigkeit früher wahrgenommen werden können? Wären dann nicht Maßnahmen wie LNG als Alternative und ggf. mehr und vor allem gefüllte Speicher möglich gewesen? In der Wirtschaftswoche wurde kürzlich berichtet, dass der frühere Vorstandschef, 2017 gefragt wurde, ob Russland eine Abhängigkeit vom russischen Gas erzeugen könnte, um dann den Gashahn abzudrehen. Seine Antwort war: Das ist doch ABSURD! Ein treffendes Beispiel für eine Einschätzung als unmöglich (= blinder Fleck), aber leider kein Einzelfall. BASF ist mit 4 % des Gesamtgasverbrauches in Deutschland der größte Abnehmer. Die zweite Branche mit einem ähnlich hohen Gasbedarf wie die Chemie ist die Metallverarbeitung.

Die Bundesnetzagentur hat sieben Szenarien für das Gas-Mengengerüst von Juni 2022 bis Juni 2023 berechnet und Ende Juni auf der eigenen Homepage veröffentlicht. Vier Szenarien führen nicht zum Ausfall. Bei den anderen Szenarien ist ein mehrwöchiger Lieferausfall, beginnend im Januar oder Februar 2023, nicht auszuschließen. Um diesen Szenarien entgehen zu können, muss Nordstream 1 ohne Einschränkung weiter laufen und die eigenen Gasexporte reduziert werden. Da die privaten Haushalte vor der Industrie mit Gas versorgt werden, könnte eine Maßnahme der Industrie das bereits erprobte Homeoffice für die Verwaltung sein. In den Szenarien ist durch die Herabsenkung der Zimmertemperaturen, usw. schon eine Einsparung von 20 % berücksichtigt. Die mittlerweile stattgefundenen Einschränkungen bei der Belieferung von Nordstream 1 wirken nun verschärfend und es wird darauf ankommen, ob die LNG-Versorgung ab Januar 2023 in vollem Umfang stattfindet.

In den aktuellen Risikoberichten der börsennotierten Unternehmen wird leider sehr oft eine Heatmap veröffentlicht, die den Erwartungswert als Priorität hat :

Risiken im höchsten Schadensbereich werden so in zwei Bereiche aufgeteilt, die wirklich hohen Risiken (= orange) und die durch die geringere Eintrittswahrscheinlichkeit verniedlichten genauso hohen Risiken (= grau). Es ist wohl davon auszugehen, dass diese zwei dargestellten Risikoklassen auch zu Unterschieden in der Risikovorsorge führen. Gerade in der heutigen Zeit mit allen Verschärfungen des Gesetzgebers (z.B. §1 StaRUG, §91 Abs. 3 AktG) kann ich mich über solche Darstellungen nur wundern. Ich könnte z.B. nicht erklären, warum ich unter der Vorgabe des frühzeitigen Erkennens von Bestandsgefährdungen in der Schadenshöhe gleiche Risiken anders behandle. Deshalb hatte ich mich als damals noch operativer Risikomanager ab 2017 entschlossen, eine nur nach der Schadenshöhe priorisierte Heatmap im Geschäftsbericht zu veröffentlichen:

 

So wird jedem Betrachter sofort klar, es gibt hier kein Zwei-Klassen-Risiko im höchsten Schadensbereich (= orange) und dies trifft vor allem auch für die üblicherweise mit geringen Eintrittswahrscheinlichkeiten eingeschätzten Extremrisiken, wie hier die Pandemie und den Krieg in der Ukraine zu. Wenn für die im Unternehmen bekannten Risiken eine Vorsorge umgesetzt wird, dann haben wir ein wirklich wirksames Risikomanagementsystem erreicht.

Sorgen Sie dafür, dass in Ihrem Unternehmen der blinde Fleck verkleinert und die Vorsorge vergrößert wird!

Ihr

Ralf A. Huber