Digitaler RMC 2021 Tag 1: Corona, Menschen, Risiken

„Berlin plant Öffnung von Hotels und Sportstudios“ titelte der Tagesspiegel in seiner Ausgabe vom 17. Mai 2021. Wer hätte es geahnt? Gemeint ist die seit über einem Jahr andauernde Corona-Krise mit ihren Restriktionen. Und die treffen auch Risikomanager. Also Menschen, die von Berufswegen durchaus in der Lage sind zu improvisieren und täglich nach neuen Wegen des Miteinander suchen. Heruntergebrochen auf das Einstiegszitat heißt das: Ja, auch Risikomanager können ihren Sport zu Hause oder in der freien Natur durchführen und müssen somit nicht erst auf die geplante Öffnung von Fitnessstudios warten. Und nein. Denn unter den aktuellen Gegebenheiten war und ist eine Präsenzveranstaltung mit zahlreichen Teilnehmern in einem Hotel nicht möglich. Dies betrifft auch die RMA Risk Management & Rating Association e.V. mit ihrem jährlichen Risk Management Congress (RMC). Der DACH-weite Kongress der Risikomanager sollte eigentlich an jenem 17. Mai 2021 als zweitägige, analoge Veranstaltung in Köln starten. Daraus wurde nichts aufgrund der Corona-Schutzverordnung Nordrhein-Westfalens samt Anzeigepflicht und Zulassungsverfahren. So entschlossen sich die RMA-Verantwortlichen zu einer rein digitalen Konferenz – gleicher Zeitraum, mit Referenten und Teilnehmern an unterschiedlichen Orten, weil virtuell durchgeführt.

Das Titelbild des RMC 2021 ziert eine Hand, in der ein Kompass liegt. Ein Bild, das trefflich in unsere Zeit passt. Einer Phase der Orientierungssuche mit einer ganzen Bandbreite potenzieller Risiken – von den Corona-Auswirkungen für Menschen und Unternehmen über Cyber- und Supply-Chain-Risiken bis zum Rating in der Krise. Themen, die im Rahmen der RMC-Veranstaltung ausführlich betrachtet wurden. Oder wie es Ralf Kimpel, Vorstandsvorsitzender der RMA, zu Beginn der virtuellen Veranstaltung formulierte: „Wir sind stolz darauf, dass wir mit unserer digitalen Konferenz einen bunten Strauß an Risikomanagementthemen bieten können.“ Öffnen wir diesen Strauß und betrachten uns die einzelnen Blumen etwas genauer.

 

Dynamik der Veränderung als einzige Konstante

In seiner Keynote: „Unternehmensrisikomanagement auf der grünen Wiese – Praxiserfahrungen aus dem Aufbau eines weltweiten Risikomanagements im globalen Umfeld“ führte Michael Ehrnsperger in die Konferenz ein. Ehrnsperger, Chief Risk Officer Allianz Technology SE, verdeutlichte die Dynamik des  Unternehmenswachstums innerhalb der Allianz. Seiner Meinung nach sei die Dynamik der Veränderung die einzige Konstante im Unternehmen. Mit Blick auf die nackten Zahlen zeigt sich dieser Veränderungsprozess beispielsweise daran, dass das Unternehmen Allianz Technology seine weltweite Präsenz von 14 Standorten im Jahr 2014 auf 55 im Jahr 2020 steigern konnte – bei einem Mitarbeiterwachstum von 4.000 auf 14.000 im gleichen Zeitraum. Dieser sich permanent verändernde Prozess mit mehr Standorten, Mitarbeiterzahlen und Umsatzsteigerungen braucht vor allem Kommunikation. Daraus folgert Ehrnsperger: „Risikomanagement ist vor allem Kommunikation.“ Und diese Kommunikation ist unter anderem beim Kulturwandel innerhalb der Organisation wichtig. Der Risikomanager der Allianz Technology macht es an der Ausgangslage deutlich. So war das Risikomanagement nur rudimentär als Teil der Unternehmenskultur vorhanden. Ehrnsperger: „Kulturell sind wir nicht ausgerichtet auf Risikomanagement. Das liegt nicht in unserer DNA.“ Dass dieser Prozess hin zu einem integrierten Risikomanagement erst entsteht, zeigt sich auch an Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollen, die in der Organisationsvergangenheit mehr als administrative Mehrbelastung denn als Mehrwert wahrgenommen wurden. Wichtig sei vor allem die Transparenz. Ehrnsperger meint damit die transparente Sicht auf Risiken und mögliche Kontrollschwächen. Nicht umsonst ist das interne Kontrollsystem mittlerweile Teil des unternehmensweiten Risikomanagements. Unter dem Strich ist ein einheitliches Kulturverständnis im Unternehmen essenziell. Mehr noch versteht Ehrnsperger eine einheitliche Kultur als wichtigen Faktor im Risikomanagementumfeld. Ein Baustein dabei ist die ganzheitliche Sicht auf den Mehrwert eines Risikomanagements. Damit verbunden ist unter anderem eine vollständige und zugleich einheitliche Übersicht zu allen Risikofeldern.

Gleichzeitig fördert ein professionelles Risikomanagement die Innovation, unterstützt das Unternehmenswachstum und ist ein integrierter Bestandteil der Entscheidungsprozesse im Geschäftsumfeld. Bereiche, die innerhalb der Allianz Technology verstanden wurden und in einem zukunftsweisenden Risikomanagement münden. Oder anders formuliert: Ein Gesamtrisikomanagement bietet einen stabilen Rahmen, trotz der dynamischen Veränderung.

  

Klinisches Risikomanagement  - Risikowahrnehmung ausbaufähig

Apropos Veränderung. Dr. Reinhard Strametz, Professor an der Hochschule RheinMain, bezog sich im Rahmen seines Vortrags zum klinischen Risikomanagement auf die sich verändernden Rahmenbedingungen durch die Corona-Pandemie. Strametz: „Als die Welt noch in Ordnung war“, sprich vor Corona, lag der Gesamtumsatz im deutschen Gesundheitswesen bei über 410 Milliarden Euro. Gleichzeitig waren 5,7 Millionen Menschen im Gesundheitswesen beschäftigt, bei rund 82,8 Millionen potenziellen Kunden. Von denen konnten viele Erkrankte während der Corona-Zeit nicht behandelt werden, seien es Herzerkrankte, Krebs- oder Schlaganfallpatienten. Der Grund: Es wurde alles auf die Pandemie und die Corona-Patienten ausgerichtet. Ein fataler Schritt. Hier hätte es nach Strametz Ansicht klare Strukturen gebraucht, um die Menschen über die Pandemie hinaus weiterhin zu behandeln, Vertrauen gegenüber den Patienten aufzubauen oder zurückzugewinnen.

Das wiederum macht eine strukturierte Kommunikation als relevanter Teil der Risikostrategie im Gesamtrisikomanagement unabdingbar. Eine Ansicht, die sich mit der des Allianz-Managers Ehrnsperger deckt. Strametz: „Wir brauchen ein entschlossenes Krisenmanagement.“ Strametz nennt es „vor die Lage kommen“. Im Grunde geht es darum, offen mit den Menschen zu sprechen. Denn dann nehmen die Menschen die transparent formulierten Informationen auch dankend an. Und Strametz ergänzt: „Wir müssen die Gesundheitseinrichtungen und deren Menschen resilienter machen und bessere Frühwarnindikatoren implementieren.“ Wen wundert es, dass das Fazit des Hochschulprofessors im Umgang mit der Corona-Pandemie eher schlecht ausfällt. So sei die Risikowahrnehmung weiterhin ausbaufähig. Gleichzeitig  bedeute seiner Meinung nach der Digitalisierungsschub ein Ausdruck gravierender Infrastrukturdefizite. „Es kann nicht sein zu versuchen, eine Pandemie mit Papier, Stift und Fax zu bewältigen“, unterstreicht Strametz  und fügt an, dass eine nachhaltigere Krisenkommunikation notwendig sei. Gleiches zählt auch für den Ausbau des Kontinuitätsmanagements. Unter dem Strich ist die Risikowahrnehmung in allen Bereichen des Gesundheitsmanagements ausbaufähig, denn die Entscheidungsschwäche gefährdet den medizinischen Erfolg. Ein klarer Fingerzeig Richtung politisch Verantwortlicher, die globale Regeln aufsetzen – umgesetzt auf Länderebene in unterschiedlichen Ausprägungen, Regelwerken sowie Ge- und Verboten.                                                                                                

                                                                                                          

Logistiktrends und Krisenbewältigung

Und auch der Vortrag von Ulf Venne, Everstream Analytic, beschäftigte sich mit der Corona-Pandemie und den Auswirkungen auf das Supply Chain Management. Rückblickend verursachten die Grenzschließungen durch die Corona-Pandemie im Jahr 2020 massive Probleme für Logistiker – vor allem in Costa Rica, Ostafrika sowie in Ost- und Südeuropa. In vielen Fabriken konnte nicht produziert werden. Venne sieht einen Trend dahingehend, eigene Ressourcen wieder stärker aufzubauen. Dies erklärt sich unter anderem dadurch, dass es durch die Corona-Pandemie im letzten Jahr zu Grenzschließungen und massiven Problemen für Logistiker kam. Dies betraf vor allem Costa Rica, Ostafrika sowie Ost- und Südeuropa. Hinzu komme der Trend stärker multimodale Lösungen im Logistikbereich einzusetzen – von der Bahn bis zum Schiff. Mit Blick auf die Risikofaktoren in der Logistik bleibt das Thema der Hackerangriffe ein Top-Risiko. So sieht der Logistikexperte den Trend, dass vor allem große Logistikdienstleister im Fokus von Hackerangriffen standen und weiterhin stehen.

Die Arbeitsweise des eigenen Unternehmens Everstream Analytic wird vom Data-Science-Gedanken getragen. Das Unternehmen bündelt  Daten und wertet diese aus, um die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt an Unternehmen im Logistikumfeld zu liefern. Venne nennt als Beispiel starke Winde. Durch dieses Wetterphänomen können Kräne in manchen Häfen nicht arbeiten. Dies gilt es vorauszuschauen, um in der Logistik Unternehmen frühzeitig zu warnen und alternative Lösungen zu suchen. In diese „Wissenslücke“ stößt das Unternehmen und möchte zukünftig stärker Antworten auf die zentrale Frage der Kunden geben: Was sollen wir tun?

Er beschreibt das Vorgehen so: „Wir nehmen viele Daten, bilden Modelle und wollen damit vorausschauend Pläne aufsetzen, um Handlungsanweisungen zu geben.“ Nach seiner Ansicht sollen diese Analysen dabei helfen, schnell Krisen zu bewältigen. Venne nennt es eine interessante Reise, auf die sich Everstream Analytic begeben hat.

 

Vom HR-Management und dem rasanten Unternehmensaufstieg

Auf eine HR-Reise nahm Prof. Dr. Elisabeth van Bentum von der Hochschule Harz mit. Genauer: Ihr Vortrag handelte von präventiven Maßnahmen im HR-Risikomanagement. Hierzu führte Bentum in den Jahren 2018 bis 2020 ein Forschungsprojekt durch. Im Fokus der Überlegungen steht ihrer Meinung nach, dass Risiken direkt oder indirekt von Menschen verursacht werden. „Deshalb ist das systematisierte Managen von Risiken, trotz der damit verbundenen Komplexität, auch bei der Durchführung aller HR-Prozesse unerlässlich“, so Bentum. Im Zuge der Untersuchung wurden sowohl KMU als auch Großunternehmen befragt. Untersucht wurden verschiedene Phasen im HR-Management – vom Employer Branding über die Personalentwicklung bis zur Führung sowie dem Nachfolge- und Wissensmanagement. Die Ergebnisse zeigen, dass die zentralen Problemstellungen in der operativen Personalarbeit in allen Unternehmen, losgelöst von Branche und Größe, vergleichbar sind. „Eine vermeintliche Überlegenheit der Großunternehmen gegenüber den KMU ist in Kennzahlen nicht belegbar“, zieht Bentum ein Resümee. Im Gegenteil seien KMU meist schlanker und agiler aufgestellt. Und sie ergänzt mit Blick auf die größten HR-Risiken: „Die größten Risikopotenziale sind aktuell Prozess-, Engpass- und Anpassungsrisiken.“ Vor allem im Nachfolge- und Wissensmanagement besteht in Unternehmen ein großer Nachholbedarf. Bentums lautester Kritikpunkt: „Es werden bereits eine Vielzahl personalrelevanter Kennzahlen erhoben, aber sie werden strategisch nicht zielgerichtet genutzt.“ So wundert sich Bentum beispielsweise mit Blick auf die Ergebnisse darüber, dass zentrale Kennzahlen keine Beachtung finden – von der Zufriedenheit der Mitarbeiter bis zu Anreizsystemen. Die Gesamtergebnisse zum HR-Risikomanagement werden im kommenden Jahr in Form eines Praxishandbuchs veröffentlicht.

Von null auf 100. So könnte man den rasanten Aufstieg des Unternehmens Biontec beschreiben. Was wie ein Unternehmensmärchen klingt, ist für das Schritt halten des Unternehmensrisikomanagements nicht immer einfach. Denn vor 2019 arbeitete Biontec noch unter dem Radar des Risikomanagents. Das änderte sich mit dem Börsengang im Oktober 2019. Plötzlich standen Fragen nach der Transparenz im Mittelpunkt. „Wir lagen plötzlich auf dem Silbertablett“, beschreibt Nina Huss von Biontec diese Zeit. Denn mit dem steigenden Bekanntheitsgrad des Unternehmens stiegen auch Begehrlichkeiten, wie beispielsweise die Gefahr durch Cyberangriffe. „Ein herausforderndes Jahr“ nennt Huss die Phase und skizziert sie gleichsam als „Pfadfinderaktivitäten“. Damit meint sie die Findungsphase und das Herantasten an das Risiko- sowie Chancenmanagement. Huss: „Wir wollten ein Risikomanagementtool implementieren, das zu Biontec passt.“ In diesem Zuge suchte das Unternehmen eine Lösung, die der Organisation die notwendige Flexibilität im täglichen Arbeiten bot. Im Kern geht es dem Unternehmen beim Risikomanagement nicht um theoretische Ausfertigungen, sondern einen greifbaren Praxisbezug für die Unternehmensleitung herzustellen. Und das alles vor dem Hintergrund, dass Biontec kein herkömmliches Unternehmen ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt stand unter dem Motto, die Gesamtrisikosituation sinnvoll zu quantifizieren und Szenario-basierte Modellierungen zu ermöglichen. Nach den Worten von Huss gehe es nun vor allem darum, mit Mut die Dinge weiter anzupacken. Und dazu gehört vor allem die langfristige Planungsfähigkeit zu erhöhen – flankiert von einem professionellen und zukunftsweisenden Gesamtrisikomanagement. „Denn das Unternehmen wird erwachsener und wir wollen weiterhin großes erreichen“, wie es Nina Huss resümiert.                                                                         

 

Krisen sind der Einschlag von bereits vorher bekannten Risiken ...

Auf diese einfache Aussage brachte es zu Beginn seines Vortrags Prof. Werner Gleißner, Vorstand der FutureValue Group AG, zum Thema: „Entscheidungsorientiertes Risikomanagement und DIIR RS Nr. 2“. Seiner Ansicht nach wollen sich Menschen nicht mit Risiken auseinandersetzen. Gleißner nennt es Risikoblindheit. „Risiken werden verdrängt und wir lieben die Scheinsicherheit“, so Gleißner. Und er fügt hinzu: „Es besteht vielfach eine verzerrte Risikowahrnehmung.“ Darüber hinaus werden gesetzliche Anforderungen zum Risikomanagment in Organisationen nicht erfüllt. So zeigen verschiedene Studien, dass viele Risikomanagementsysteme bestandsgefährdende Entwicklungen nicht erkennen.

Gleißner fasst es wie folgt zusammen: „Bei den meisten Unternehmen in DAX und MDAX ist nicht erkennbar, dass diese definieren, was eine bestandsgefährdende Entwicklung ist.“ Hinzu komme die fehlende Risikoaggregation (Monte-Carlo-Simulation). Doch gerade die Risikoaggregation mittels einer Monte-Carlo-Simulation führt zu einer Bandbreitenplanung und ist notwendig, um bestandsgefährdende Entwicklungen (§93 AktG) aus Kombinationseffekten von Einzelrisiken zu erkennen. Und Gleißner schließt mit dem Hinweis: „Wir haben alle wesentlichen Bausteine, um ein Tragfähigkeitskonzept in Organisationen aufzusetzen.“ Denn die Krisenfrüherkennung ist Aufgabe des Risikomanagements – gerade um professionelle Risikoanalysen für unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Und an dieser Stelle helfen reine Routine-Reports nicht weiter, um ein modernes und in die Zukunft gerichtetes Risikomanagement zu unterstützen.

Und damit nicht genug. Weitere Themen rundeten den ersten Tag der digitalen RMA-Konferenz ab – seien es die Ausführungen der CALPANA Business Consulting zur Corona-Pandemie inklusive des „Statistikbooms im Risikomanagement“. Oder der Aktivitäten zur Stärkung des Risikomanagements mit Projekten der Funk Stiftung. Nicht zu vergessen der „Tiger im Nebel“ und der Umgang mit dem Datendschungel. Dahinter stehen nach Alexander Dietzel, Geschäftsführer Instat GmbH, Massendaten als Planungsgrundlage, um beispielsweise eine Risikofrüherkennung durchzuführen. Dietzel nennt es das „Rascheln im Gebüsch“, das es zu deuten gilt. Oder anders formuliert, ob der Tiger in der Nähe ist. Damit endet das thematische Rascheln des ersten Tages im Rahmen des Risk Management Congress 2021.