Qualitative Risikoaggregation – eine Fiktion!

Editorial der RMA-News im Controller Magazin

Liebe Leserinnen und Leser,

seit 1998 ist es aufgrund des KonTraG Verpflichtung von Unternehmensführungen, bestandsgefährdende Entwicklungen früh zu erkennen (§91 AktG). Mit Inkrafttreten des StaRUG am 1.1.2021 wurde diese Anforderung noch einmal bekräftigt. Damit ist es elementare Notwendigkeit, nicht nur einzelne Risiken zu identifizieren und zu bewerten, sondern es ist insbesondere auch zu überwachen, ob aus dem Zusammenwirken von Risiken es zu bestandsgefährdenden Entwicklungen kommen kann. Es ergibt sich damit logischerweise, dass solche Kombinationseffekte von Einzelrisiken auszuwerten sind, um gesetzlichen Anforderungen zu genügen. Dies wird gemeinhin als Risikoaggregation bezeichnet.

Der IDW PS 340, der Standard der Wirtschaftsprüfer in Deutschland zur Prüfung der im KonTraG geforderten Risikofrüherkennungssysteme, nennt für diese daher auch die Risikoaggregation als einen Pflichtbaustein. Mit der Neufassung im Jahr 2020 wurde dies nochmal verdeutlicht. In diesem ist nun auch verankert, dass Unternehmen ein Risikotragfähigkeitskonzept benötigen. Dabei ist individuell zu definieren, was eigentlich unter einer bestandsgefährdenden Entwicklung für das Unternehmen verstanden wird. Es wird auch darauf hingewiesen, dass dabei auch einbezogen werden muss, ob aus der Verletzung von Ratinganforderungen oder von (financial) Covenants gegenüber Geschäftspartnern solche bestandsgefährdenden Entwicklungen resultieren können. Offensichtlich sind hier also eher quantitative Faktoren zu untersuchen. Gleichwohl lässt der IDW PS 340 n.F. (2020) auch „qualitative Verfahren“ als geeignet für eine Risikoaggregation zu. In Tz 18 heißt es: „Bei der Risikobewertung und Risikoaggregation können unterschiedliche anerkannte quantitative und qualitative Verfahren zur Anwendung kommen.“

In einer wissenschaftlichen Stellungnahme zur Überarbeitung des IDW PS 340 wurde allerdings auf die Bedeutung der Monte-Carlo-Simulation hingewiesen als einzig sachgerechte Möglichkeit der Risikoaggregation. In aber eher theoretischen Spezialfällen kann auch der Varianz-Kovarianz-Ansatz eingesetzt werden. Nun kommt es durchaus vor, dass Wissenschaft und Praxis unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Praktikerverfahren vereinfachen häufig, leisten sich bewusst methodische Schwächen, um pragmatisch Lösungen zu finden. Im Risikomanagement ist dies auch der Fall, beispielsweise bei der Quantifizierung von Risiken. Statt für jedes Risiko die jeweils theoretisch beste Wahrscheinlichkeitsverteilung zu suchen, verwendet man meist praktikablere Möglichkeiten wie die Dreiecksverteilung. Das ist häufig auch vollkommen in Ordnung, da es eine perfekte Risikoquantifizierung sowieso nicht gibt. Vereinfachungen dürfen und sollen sogar zur Reduzierung des Aufwands eingesetzt werden. Man darf nur nicht Übersimplifizieren. Jedes Risiko mit Eintrittswahrscheinlichkeit und einer möglichen Schadenshöhe zu beschreiben ist z. B. ein zu sehr vereinfachender, nicht mehr sachgerechter Weg.

Wie ist das nun bei der Risikoaggregation? Welche qualitativen Verfahren gibt es, um den inhaltlichen Anforderungen der Wirtschaftsprüfer gerecht zu werden? Genau hier ist das Problem. Es ist kein derartiges Verfahren bekannt, weder aus der Theorie noch aus der Praxis. Anfang August erfolgte bei RiskNET sogar der öffentliche Aufruf, solche Verfahren zu benennen und vorzustellen. Bis Redaktionsschluss Ende September wurden exakt Null Vorschläge eingereicht. Dies unterstützt die im Aufruf unterstellte Hypothese, die ganz im Einklang mit der Theorie ist:

Es gibt keinen qualitativen Ansatz zur Risikoaggregation, der eine Früherkennung bestandsgefährdender Entwicklungen erlaubt!

Wenn Sie einen solchen Ansatz aus der Literatur kennen oder gar in der Praxis einsetzen, dann melden Sie sich gerne bei mir unter marco.wolfrum@rma-ev.org. Ich leite dies dann gerne zur Begutachtung weiter, auch wenn die Einsendefrist schon verstrichen ist.

Um den gesetzlichen Anforderungen der Risikoaggregation zur Früherkennung bestandsgefährdender Entwicklungen Genüge zu tun, ist eine planungsbasierte Monte-Carlo-Simulation in den allermeisten praktisch vorkommenden Fällen unabdingbar. Selbst wenn eine andere Vorgehensweise vom Wirtschaftsprüfer testiert wird, bedeutet dies nicht, dass man auch im Einklang mit dem Gesetz ist! Die Haftung dafür liegt bei der Unternehmensführung und nicht beim Wirtschaftsprüfer.

Ein Grund, die Monte Carlo Simulation nicht einzusetzen, ist häufig die Sorge, dass diese nur sehr komplex umzusetzen ist. Diese Sorge ist allerdings unbegründet. Es gibt inzwischen schon professionelle Softwarelösungen, die Monte-Carlo-Simulationen im Planungskontext durchführen können. Und selbst die Standardsoftware Excel kann man mit einem geeigneten Add-In dazu in die Lage versetzen. Ein entsprechendes Risikoaggregationsmodell (auch Bandbreitenplanung genannt) zu erstellen, ist dabei keine Raketenwissenschaft. In der neu aufgelegten Seminarreihe der RMA Rating & Risk Academy GmbH wird daher auch ein Grundlagenseminar angeboten zur Erstellung von Risikoaggregationsmodellen in Excel. Auch Fortgeschrittenen-Seminare hierzu sind in Planung. Die Themen und die Termine der Seminare finden Sie auf der Homepage der RMA.

Herzliche Grüße

Ihr Marco Wolfrum