„Für die Industrie der Zukunft ist es wichtig, eine sinnvolle und angemessene Digitalisierung zu erreichen“

Seit Jahren wird viel über die Industrie 4.0 gesprochen sowie den Mehrwerten, die sich durch die smarten Fabrik der Zukunft ergeben. Doch was heißt das konkret, gerade mit Blick auf das Risiko- und Chancenmanagement?

In einem zweiteiligen Interview sprachen wir mit Prof. Julia C. Arlinghaus. Sie ist am Lehrstuhl für Produktionssysteme und -automatisierung, Fakultät für Maschinenbau, der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg tätig. Zudem ist Arlinghaus Institutsleiterin des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF und gehört dem Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland an. Im Rahmen des Risk Management Congress 2023 in Köln referiert sie zum Risikomanagement für die smarte Fabrik. 

In einer Studie zum Thema „Risikomanagement 4.0“ im Kontext der Industrie 4.0 werden Sie mit den Worten zitiert, wonach eine smarte Wertschöpfung ein smartes Risikomanagement brauche. Was verstehen Sie darunter, gerade mit Blick auf ein intelligentes Risikomanagement in einer modernen Industriewelt?

Julia C. Arlinghaus: Industrie 4.0 und Risikomanagement haben großes Potenzial für eine gemeinsame Nutzung. Die Echtzeit-Datennutzung, weitgehende Automatisierung und die Zusammenarbeit zwischen Menschen und Maschinen in der Industrie 4.0 sind ohne fortschrittliche Technologien und daran gekoppelter Datenanalyse nicht möglich. Und auch nur so können Risiken erst identifiziert, bewertet und letztlich minimiert werden. Diese Risikoanalyse ist notwendig, um die Vorteile der Industrie 4.0 wie die Echtzeit-Abbildung von Wertschöpfungsnetzen und Lieferketten oder Innovation von Produkten, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen tatsächlich zu nutzen.

Die Industrie 4.0 ist kein neues Thema und doch hat es vielfach den Anschein, als sei die deutsche Wirtschaft seit Jahren zu zögerlich in der Umsetzung neuer und vor allem zukunftsgerichteter Lösungen. Wo stehen wir Ihrer Meinung aktuell bei den Digitalisierungs- und Automatisierungsbestrebungen hierzulande?

Julia C. Arlinghaus:
Die deutsche Wirtschaft hat Fortschritte bei Digitalisierung und Automatisierung gemacht, aber es gibt immer noch Raum für Verbesserungen. Von den Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitenden sehen sich fast zwei Drittel als Nachzügler bei Industrie 4.0 und selbst unter den Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitenden ist es über ein Drittel. Einige Unternehmen haben bereits digitale Technologien und Automatisierungslösungen eingeführt, um die Effizienz zu steigern und die Kosten zu senken. Jedoch gibt es immer noch Hürden hinsichtlich Datensicherheit und Investitionskosten. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Digitalisierungsfähigkeit in einigen Branchen noch ausbaufähig ist. Trotzdem ist Deutschland auf einem guten Weg, die Chancen der Industrie 4.0 zu nutzen und sich als führende Industrienation zu behaupten.

Was braucht es, um qualitativ mehr Digitalisierung in die Industrie der Zukunft zu bekommen?

Julia C. Arlinghaus:
Für die Industrie der Zukunft ist es wichtig, eine sinnvolle und angemessene Digitalisierung zu erreichen. Der Mensch spielt eine Schlüsselrolle dabei. Die EU-Kommission hat mit dem Konzept "Industrie 5.0" die Idee einer menschenzentrierten, nachhaltigen und resilienten Industrieproduktion entwickelt. Industrie 4.0 wird um den Fokus auf den Menschen erweitert. Dabei ist die richtige Ausgestaltung der Verbindung zwischen Mensch und Maschine entscheidend für den Erfolg von Digitalisierungsprojekten. Unternehmen sollten die Vorteile der Digitalisierung und Automatisierung nutzen, um Effizienz und Produktivität zu steigern, aber auch soziale und ökologische Auswirkungen berücksichtigen. Eine nachhaltige Digitalisierung zielt darauf ab, die ressourceneffiziente Produktion zu fördern, den Ressourcenverbrauch zu reduzieren und gleichzeitig die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dazu sollten die Kompatibilität digitaler Lösungen mit den jeweiligen industriellen Prozessen objektiv beurteilt und ein ganzheitlicher Ansatz für das Risikomanagement entwickelt werden. Hier kann die Politik rechtssichere Rahmen setzen. Technische Standards, zum Beispiel für den Austausch von Daten, treiben diese Entwicklung ebenfalls weiter voran.

Welche Risiken sehen Sie auf dem Weg in Richtung Industrie 4.0 und welche Branchen sowie Unternehmensgrößen stehen hierbei im Fokus?

Julia C. Arlinghaus:
Die produzierende Industrie, die Logistik- und Transportbranche sowie Energie- und Versorgungsunternehmen bieten großes Potenzial für Industrie 4.0. Aus unserer Forschung am Fraunhofer IFF wissen wir, dass diese Themen besonders die Branchen Automotive, Flugzeugindustrie, Maschinen- und Anlagenbau, Chemieindustrie, Bauindustrie und die Konsumgüterindustrie beschäftigen. Bei kleinen und mittleren Unternehmen sehen wir oft den Willen zu mehr Digitalisierung. Dort ist es aber oftmals schwierig, da weniger Ressourcen und Expertise im Vergleich zu Großunternehmen zur Verfügung stehen.

Risiken und Herausforderungen der Industrie 4.0 sollten von Unternehmen jeder Größe und Branche betrachtet werden. Der Mensch spielt als Nutzer und Manager neuer Technologien eine entscheidende Rolle. Sein Mehrwert für die Wertschöpfung ist und bleibt groß. Dennoch stellen fehlendes Know-how, Bedienfehler, Verweigerung vor neuen Technologien und fehlerhafte Technologieanwendung auch Risiken dar. Datensicherheit und Cybersecurity sind ebenso wichtig, um Datenmissbrauch und Cyberangriffen vorzubeugen. Für eine effiziente Technologienutzung ist eine zielgerichtete Qualifizierung der Mitarbeitenden unabdingbar. Abhängigkeiten von Technologieanbietern, die Komplexität und Integration von vernetzten Maschinen und Systemen sind weitere Herausforderungen. Mit einem gezielten Change- und Risikomanagement sind all diese Herausforderungen aber zu handhaben.

Daran schließt sich die Frage an, welche Chancen und Mehrwerte sich daraus ergeben?

Julia C. Arlinghaus:
Industrie 4.0 beschleunigt industrielle Prozesse entlang der Wertschöpfungskette. Dadurch werden wirtschaftliche Ziele schneller und einfacher erreicht, Innovationen gefördert und Wettbewerbsvorteile gesichert. Digitalisierung spielt eine wichtige Rolle für nachhaltige und klimafreundliche industrielle Prozesse. Die Revolution von Industrie 4.0 betrifft nicht nur die Produktion, sondern vor allem auch die Geschäftsmodelle, beispielsweise durch serviceorientierte Modelle wie Abonnements. Industrie 4.0 bringt auch interessante Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: für gut ausgebildete Fachkräfte werden Arbeitsplätze geschaffen, während gering qualifizierte Arbeitsplätze wegfallen. Digitalisierung und Automatisierung reduzieren den Druck durch den Arbeitskräftemangel, und der Mensch wird dort eingesetzt, wo er am meisten Nutzen stiften kann, zum Beispiel durch kreative Problemlösungen.

Welche Hilfestellungen kann die Wissenschaft Ihrer Meinung leisten, um die Wirtschaft „fit“ zu machen für die Herausforderungen der Industrie im digitalen Zeitalter?

Julia C. Arlinghaus:
Um fit für zukünftige Herausforderungen zu sein, braucht es kontinuierliche Forschung und Entwicklung. Insbesondere die angewandte Forschung spielt dabei eine wichtige Rolle. Forschungsorganisationen wie Fraunhofer sind nah dran an den Unternehmen und lösen die Probleme unmittelbar und sehr praxisorientiert. Mit diesen Transferansatz können neue Technologien und Anwendungen entwickelt und umgesetzt werden, um unternehmerische und technologische Risiken zu minimieren. Demonstratoren wie in der Elbfabrik des Fraunhofer IFF können genutzt werden, um Digitalisierung und Automatisierung erlebbar zu machen und Verständnis und Akzeptanz zu schaffen. Auch die Wissenschaftskommunikation spielt eine Rolle: Sie sollte darauf ausgerichtet sein, Industrieakteure für ein innovatives Risikomanagement zu sensibilisieren.

Zu einem ganzheitlichen Risikomanagement gehören weiterhin auch die Standardisierung von Prozessen und Vereinheitlichung von IT-Landschaften sowie eine ausreichende Datenbasis und klare Schnittstellen. Der Mensch muss frühzeitig eingebunden und geschult werden und er muss als Ressource in diesen Prozessen auch tatsächlich bereitstehen. Ein großer Risikofaktor ist die Fehleranfälligkeit von Technologien und Prozessen. Hier muss sehr genau hingeschaut werden. Und letztlich muss alles miteinander reibungslos kooperieren durch Standards, definierte Schnittstellen und eindeutige Prozesse. So können Potenziale erschlossen und die Resilienz erhöht werden, um gemeinsam schneller auf Störungen zu reagieren.
 

(Bildquelle: Fraunhofer IFF/Viktoria Kühne)

 

Prof. Julia C. Arlinghaus ist am Lehrstuhl Produktionssysteme und -automatisierung, Fakultät für Maschinenbau, der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg tätig. Zudem ist sie Institutsleiterin des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF und gehört dem Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland an. Im Rahmen des Risk Management Congress 2023 in Köln referiert sie zum Risikomanagement für die smarte Fabrik.